Sonntag, der 2. April 1922

Der Klinkersche Hof

Katharina Rasch konnte nicht schlafen. Die Taschenuhr auf dem Nachttisch zeigte an, dass es schon kurz vor Mitternacht war. Sie blies die Kerze aus. Ihr Kopf schmerzte, die Gedanken rumorten darin und gönnten ihr keine Ruhe.

Der Wind strich um den alten Hof, die Zweige der Linden schabten an der Mauer. Die Bäume waren viel zu nah ans Haus gepflanzt worden. Sie müssten geschnitten werden – aber das war nicht mehr ihre Sache, darum hatte sich von nun an Helene zu kümmern. Katharinas Stiefschwester, die Witwe Helene Schmidt geborene Klinker, würde in der nächsten Woche das Erbe antreten.

Helene kam, um auf dem Klinkerschen Hof mit ihren zwei Söhnen und ihrem zukünftigen Ehemann zu leben, und Katharina musste gehen.

Sie presste die Kiefern zusammen. In ihrem Magen ballte sich die Wut. Morgen würde der Umzug beginnen. An ein Wunder, das dies noch verhindern könnte, glaubte sie nicht mehr.

Der Vater, Hufner Marquard Klinker, war Ende Januar gestorben. So ein alter großer Hof durfte nicht geteilt werden. Das hatte sie von frühester Jugend an gewusst. Da der Hof von Helenes Mutter stammte, sollte Helene ihn auch bekommen. Katharina, die Tochter aus zweiter Ehe, erhielt stattdessen nach des Vaters Wunsch die Gärtnerei, die jetzt noch Helene gehörte. Beide Töchter seien dann gut versorgt, so hatte er sich wohl gedacht. Im Testament war das nicht mehr festgehalten worden, dazu war Vater zu schwach gewesen, aber Helene hatte dem Sterbenden in die Hand versprochen, dass ihre Schwester die Gärtnerei zu Eigentum haben solle. Zuerst war Katharina mit der Abmachung zufrieden gewesen, doch nun graute ihr davor, nach unten an die Schlei, gleich neben den Wald zu ziehen. Was sollte sie in der Einsamkeit auf der kleinen Katenstelle der Schwester anfangen?

Wenn sie doch früher an dem väterlichen Hof Interesse gezeigt hätte! Aber sie hatte Lehrerin werden wollen. Dann war ihr Friedrich Rasch begegnet, und sie hatten vor dem Krieg geheiratet. Nach der Scheidung war sie hierher zurückgekehrt. Erst nach dem Tod des Vaters hatte sie sich um den Betrieb gekümmert und sich mit Hilfe des Verwalters, Nikolaus Schmidt, gut eingearbeitet. So ein Besitztum war wie ein kleines Königreich. Kühe, Pferde und das Land waren in der heutigen Zeit mehr Wert als Gold. Anerkennung und Respekt hatte sie sich innerhalb von zwei Monaten bei den Händlern, Nachbarn und den Angestellten des Hofes verschafft. Diese Arbeit erfüllte sie mit tiefster Zufriedenheit. Das war ihre wahre Berufung. Wenn der Vater das hätte erleben können, vielleicht hätte er sich anders entschieden und ihr den Klinkerschen Hof anvertraut.

Jetzt begann das Frühjahr, die Natur war bereit, die Felder mussten bestellt werden. Darüber würde von nun an Helene zu bestimmen haben, und ihr Verlobter Karl Matthiesen, aus dem vermutlich nie ein guter Bauer werden würde. Im Krieg war er Feuerwerksleutnant gewesen und hatte erst im letzten Jahr seinen Dienst quittiert. Wie sollte der so einen Hof führen können. Aber ihre Schwester hatte ja nie ihren Kopf entscheiden lassen, nur das Herz – oder eine Stelle, die ein Stück tiefer zu finden war.

Katharina stand auf und tappte ans Fenster, spähte in die dunkle Nacht hinaus und kühlte ihren heißen Kopf an der Scheibe. Ein bisschen Mond war noch, sonst konnte sie kein Licht sehen. Nur der Pferdestall gegenüber und das mächtige Gebäude zur Linken, das als Scheune und Kuhstall diente, waren noch schwärzer als der Himmel.

Ihre Blicke versuchten die Dunkelheit zu durchbohren. Sie stand und starrte hinaus, bis die Kälte, die von den Dielen emporstieg, sie wieder ins Bett trieb.

Sie knetete und rieb ihre eiskalten Füße. So konnte sie erst recht nicht einschlafen. Katharina zündete die Kerze an, zog die Schublade am Nachttisch auf und fand das Aspirin. Sie schüttete etwas in ein Glas, goss Wasser aus dem Krug, rührte um, bis sich das Pulver aufgelöst hatte. Ohne abzusetzen schluckte sie das nach Essig schmeckende Getränk hinunter. Dann löschte sie die Kerze, legte sie sich hin und wartete darauf, dass das Mittel seine Wirkung tat.

Im September würde sie dreißig werden. Was konnte sie noch vom Leben erwarten? Einzig, dass sie am Ende doch den Wald bekommen hatte, war ein kleiner Triumph. In der letzten Woche hatte sie mit ihrer Schwester um den Wald gestritten. Den hatte noch Helenes gefallener Mann gekauft. Somit gehörte er zur Gärtnerei, und damit war es jetzt Katharinas Wald. Helene war anderer Meinung gewesen, bot ihr an, sie könne so viel Holz schlagen, wie sie zum Brennen benötige. Darauf war sie nicht eingegangen. Am Ende hatte Helene nachgegeben und gesagt, es sei ihr einerlei mit dem Wald, sie, Katharina, sei der reinste Advokat.

Katharina lächelte und lauschte nach draußen. Aber nur der Wind und die Zweige waren zu hören.