
Gewiss, sie hätte schon viel früher verkaufen sollen. Nur hatte sie nicht wegziehen können weil sie immer noch auf Pedros Rückkehr wartete. Nur sie war überzeugt davon, dass ihr Mann noch lebte. Doch Jahr um Jahr war vergangen, und auf einmal waren es vierundvierzig Jahre! Hätte sie seine Leiche gesehen, hätte sie wohl Abschied nehmen können. Aber so hatte sie es nie geschafft. Wie sie sich kennengelernt hatten, kam ihr manchmal so vor, als sei es erst gestern gewesen.
Leseprobe:
2.
Reise nach Helgoland
Es war der 19. Mai 1963, der ihr Leben verändern sollte. Ihr Vater hatte seinen beiden Töchtern einen Tagesausflug mit viel frischer Seeluft spendiert. So fuhren Dodo und ihre jüngere Schwester Biene mit einem Ausflugsschiff von den Hamburger Landungsbrücken nach Helgoland. Nach dem Ablegen standen sie eine Weile an der Reling, ließen sich vom starken Wind die Haare durcheinander wirbeln und winkten den Kindern, die in der Nähe des Ufers badeten. Dann kam Blankenese in Sicht, die Häuser am Steilufer mit den vielen Treppen kannten sie von Ausflügen mit der S-Bahn und dem Spaziergang zurück am Elbufer. Hier wurde die Elbe noch breiter und so war am Ufer nicht mehr viel zu sehen. Dodo und Biene beschlossen unter Deck zu gehen und etwas zum Aufwärmen zu trinken.
Die Cafeteria war gut besetzt, sie fanden aber einen freien Tisch in einer Ecke. Kaum hatten sie sich Kaffee bestellt, kamen zwei junge Männer und fragten, ob sie sich zu ihnen setzen dürften. Biene sagte: „Wir haben gerade beschlossen, diese Plätze zu vermieten – wenn ihr euch ordentlich benehmt, wird es nicht so teuer.“
Die beiden Jungs lachten und setzten sich.
„Man sieht sofort, dass ihr Schwestern seid“, sagte der eine. Für Dodo und Biene war das immer seltsam zu hören. So ähnlich sahen sie sich doch gar nicht. Sie waren zwar beide fast gleich groß, die zwei Jahre jüngere Biene sogar drei Zentimeter größer, hatten beide rotblonde Haare, Dodo hatte grüne Augen wie ihr Vater und Biene blaue Augen wie ihre Mutter. Trotzdem schienen Fremde sie zu verwechseln.
„Na, dann will ich mich doch vorstellen“, sagte der andere: „Ich heiße eigentlich Peter, aber in unserer Klasse waren drei Jungs mit diesem Namen, da habe ich mich umbenannt. Pedro Landmann heiße ich, will aber Seemann werden, obwohl meine Eltern einen richtigen Landmann in der Gärtnerei gebrauchen könnten.“
„Und ich heiße eigentlich Dorothea, aber meine kleine Schwester konnte den Namen nicht aussprechen, seitdem werde ich Dodo genannt – wie der Vogel auf Mauritius, der ausgestorben ist, weil er keine Angst vor Menschen hatte und auch nicht fliegen konnte.“
„Ich bin Biene, keiner nennt mich Sabine.“
„Mich nennen alle Joachim, aber ihr dürft ruhig Jo zu mir sagen. Wir beide sind auf der Seefahrtschule und hoffen auf Sturm, die Fahrt nach Helgoland ist ja berüchtigt.“
„Wir haben uns schon vorsichtshalber eine Kotztüte eingesteckt“, sagte Biene.
„Die kluge Frau baut vor!“ Pedro lachte.
„Ich habe eine schöne Geschichte von einem Freund gehört, der auf dem Segelschulschiff fuhr, wollt ihr die hören?“ Jo sah in die Runde, und als alle ihn gespannt anschauten, fuhr er fort: „Es war Sturm und die ersten wurden grün im Gesicht und hingen an der Reling, während die anderen feixten. Wartet, euch krieg ich auch!, sagte sich mein Freund. Er nahm eine Kotztüte, ließ sich vom Koch ordentlich heiße Erbsensuppe einfüllen und kam damit an Deck. Dann mimte er den Seekranken, würgte und tat so, als spucke er in die Tüte. Anschließend öffnete er sie, schaute erstaunt hinein und rief: Ach, die Suppe ist ja noch gut! Er zog einen Löffel aus der Hosentasche und begann mit offensichtlichem Appetit zu essen. Da kam denen, die sich eben noch über die Seekranken amüsiert hatten, der Magen hoch, und ruckzuck hingen alle über der Reling.“
„Eine schöne Geschichte!“ Dodo stöhnte. „Jetzt brauche ich aber unbedingt frische Luft – kommst du mit, Biene?“ Sie trank hastig ihren Kaffee aus.
„Gleich“, antwortete ihre Schwester, nachdem sie einen Blick mit Jo getauscht hatte.
Sie machten einen Treffpunkt an Steuerbord aus, und Pedro begleitete wie selbstverständlich Dodo.
Sie standen im Wind an der Reling und sahen auf das schaumbedeckte Wasser hinunter, das Ufer war inzwischen kaum noch zu erkennen.
„Sturm kann man es nicht nennen“, bemerkte Dodo beim Anblick der Wellen.
„Nein, darüber brauchst du dir nach dem Wetterbericht keine Sorgen zu machen – auch nicht um deine Schwester. Jo ist harmlos, der tut nur immer so als ob.“
„Dann müsstest du dir eher um Jo Sorgen machen.“ Dodo lachte und Pedro stimmte in ihr Lachen ein.
„Ihr seid wohl ein Herz und eine Seele, was? Ich bin leider ein Einzelkind.“
„Meine Schwester und ich haben miteinander gespielt, uns abends im Bett Geschichten erzählt. Mein Bruder Jan ist sieben Jahre jünger als ich. Den lieben wir, aber mitspielen konnte er nicht so oft. Er hat zum Ausgleich Freunde, die hast du doch auch?“
Pedro nickte. In einiger Entfernung sahen sie zwei Segelboote, ein Fischerboot zog vorüber. Pedro machte sie auf die Zeichen aufmerksam, zwei schwarze Dreiecke mit den Spitzen zueinander, die ein Fischer am Mast führen musste. „Denen müssen andere Schiffe ausweichen“, sagte er, „denn dann ziehen sie ihr Netz hinter sich her. Nachts brauchen Schiffe auch bestimmte Lichter. Es ist erst verwirrend, aber auch faszinierend, weil diese Seefahrtszeichen so logisch sind. Angenommen, da ist eine Untiefe, oder ein gesunkenes Wrack, dann wird so eine Gefahrenstelle genau gekennzeichnet durch eine Tonne, so dass der Steuermann weiß, an welcher Seite er diese Stelle umfahren muss.“ Pedro blickte sich um. „Leider ist hier nichts zu sehen, außer den roten Tonnen, die das Fahrwasser begrenzen. Dass Steuerbord grün ist und Backbord rot, weiß ja jeder, aber dass hier rechts von uns rote Tonnen zu sehen sind, liegt daran, dass das Fahrwasser von See aus gekennzeichnet wird.“
„Also, wenn wir zurückfahren, haben wir die grünen, spitzen Tonnen an der Steuerbordseite – das lernen Hamburger schon im Kindergarten.“
Pedro schaute sie verblüfft an, dann lachte er. Dodo wollte ihn gern öfter zum Lachen bringen, denn dann erschien in seiner Wange ein Grübchen. Der Bursche mit den feuerroten Locken und den Sommersprossen gefiel ihr. Und in solche sanft blau-grüne Augen – wie in seichtes Wasser am Meer – hatte sie noch nie geblickt.
„Ich hoffe nur, dass wir dicht genug am Feuerschiff Elbe I vorbeikommen“, erklärte er eifrig weiter. „Darüber habe ich schon gelesen. Das ist die Bürgermeister O’Swald II, sie muss auf der Position bleiben, um den ein- und auslaufenden Schiffen von der Nordsee in die Elbe und umgekehrt, den Weg zu weisen, auch bei Nebel und in der Nacht. Die Ankerkette ist tonnenschwer und der Pilzanker in fünfundzwanzig Meter Wassertiefe wiegt allein dreitausend Kilo.“
„Mannomann“, bemerkte Dodo beeindruckt. Pedro war mit Leib und Seele bei der Seefahrt, das merkte sie. Seine Eltern würden ihn nicht davon abbringen können, ein Seemann zu werden, selbst wenn er jedes Mal seekrank würde.
„Nur bei Gefahr darf das Feuerschiff seine Position verlassen. Das war im letzten Februar der Fall, als die Sturmflut die ganze Küste und besonders Hamburg heimsuchte. Zum Glück hat das heutige Feuerschiff einen Motor – im Gegensatz zu früheren Feuerschiffen und den beiden Elbe II und Elbe III, die mehr an der Küste liegen. Mit dem Motor konnten sie sich bei der Sturmflut retten. Viel schlimmer ist es dem Feuerschiff Bürgermeister Oswald I ergangen, die ist 1936 im Orkan am 27. Oktober gekentert und gesunken. Fünfzehn Mann Besatzung sind dabei ums Leben gekommen.“
„Ist ja schaurig“, sagte Dodo. „Aber das Wissen um die Gefahren hat dich nicht davon abgebracht, ein Seemann zu werden – oder?“
„Nun, sterben werde ich sowieso, da mache ich doch bis dahin lieber das, was mir Freude macht.“
Zwei Jahre lang hatten sie sich so oft wie möglich getroffen. Dodo hatte mit ihm die Sehenswürdigkeiten von Hamburg erforscht, sie waren zum Tanzen, ins Theater und ins Kino gegangen und stundenlang an der Elbe entlang spaziert. Auf der Alster hatten sie gemeinsam das Segeln gelernt. Ja, sie waren schrecklich verliebt gewesen, daran konnte sich Dodo noch gut erinnern.
Inzwischen habe ich Dein Buch zum dritten Mal gelesen. Ruhig, langsam und mit Genuss.
Nun kenne ich mich ein bisschen mit den Familiennamen aus: Heini und Josephine, Berta und all die anderen Namen.
Das Buch ist logisch aufgebaut. Ein Kapitel folgt folgerichtig nach dem anderen. Dazu die seltsame Geschichte, dass Dodo allein lebt und immer noch nicht glaubt, dass ihr Mann tot ist. Den Beruf der Gärtnerin glaubt man Dodo. Auch wie sie mit den Enkelkindern ihres Bruders umgeht, passt. Dazu die Geschichte mit dem Hund!
Ein gelungenes Buch! Ich gratuliere!
Uta Franck, Kelkheim