Und noch eine Geschichte aus „Von der Königin, die behaglich Tee zu trinken wünschte“.
Die Prinzessin mit den großen Füßen
Es war einmal ein Königreich. Das bestand nur aus einem großen Schloss, einer Stadt, fruchtbaren Feldern und einem Wald drumherum. Die Leute darin, vom König angefangen bis zu dem kleinsten Schuhmacherlehrling, waren den ganzen Tag vergnügt und heiter. Sie sangen, lachten und scherzten mit ihren Nachbarn. Wenn doch einmal Streit ausbrach, war er schnell mit ein paar freundlichen Worten beigelegt. Den Leuten war gar nicht bewusst, dass sie anders lebten als die Menschen in den Nachbarländern, es war immer so gewesen. Wenn die Sonne schien, freuten sie sich und wenn es regnete ebenso, denn dann bekamen die Pflanzen in den Gärten Wasser. Wenn es schneite, bauten sie mit ihren Kindern Schneemänner und rodelten zusammen den Berg hinunter. War es kalt und grau draußen, saßen sie gemütlich am warmen Ofen und erzählten sich Geschichten. Warum war es in diesem Königreich anders als in anderen Ländern? Die Ursache war ein Spiegel. Er hing in der großen Eingangshalle des Schlosses, an ihm ging jeder vorbei, der dort zu tun hatte. Er zeigte den Leuten nicht die Wirklichkeit, kein getreues Abbild. Er zeigte ihnen nur das Schöne. So kam es, wenn ein hässlicher Mensch hineinsah, sein Blick auf das fiel, was an ihm schön war. Dann ging er mit einem freundlichen Gesicht weiter, denn er fühlte sich wohl. Er konnte liebenswürdig zu denen sein, die ihm begegneten. Eines Tages aber hatte der Spiegel keine Lust mehr, den Leuten nur das Schöne zu zeigen. „Sie wissen gar nicht, was ich für sie tue. Ich zeige ihnen jetzt nur noch das was hässlich an ihnen ist. Dann werden sie aber Augen machen!“ An dem Morgen kam die Prinzessin singend durch die Halle und an dem Spiegel vorüber. Sie sah aus Gewohnheit und so nebenbei hinein, wollte weitergehen, doch ihr Fuß stockte, das Lied blieb ihr im Halse stecken. „Was ist das?“ schrie sie entsetzt und ging näher heran. „So eine große Nase hatte ich noch nie!“
„Ha!“ lachte der Spiegel. „Jetzt siehst du es mal richtig!“ „Und diese Falten um die Augen!“ „Lachfalten“, höhnte der Spiegel. „Meine Güte, auch die Füße sind so groß!“ Die Prinzessin sah an sich hinunter, dann wieder in den Spiegel. „Nein, es stimmt, sie sind wirklich reichlich groß, er verzerrt nichts. Ich habe es nur früher nie gesehen!“ Die Prinzessin wich zurück und rannte dann auf ihr Zimmer. Dort schloss sie sich ein und weigerte sich hinauszukommen. Sie kam auch nicht, als der König und die Königin gemeinsam an die Tür klopften und die Prinzessin baten, wenigstens zum Abendbrot herunterzukommen. Sie wollte nicht. Nun waren den ganzen Tag über verschiedene Leute an dem Spiegel vorbeigegangen, und denen war es nicht besser ergangen. „Ich möchte doch wissen, warum hier einige Leute so finstere Gesichter machen“, wunderte sich der König. Es dauerte nicht lange, da hatte er selber so ein Gesicht. „So dick war ich noch nie“, murmelte er, „und so ein Doppelkinn – wie soll ich da Eindruck machen, wenn nächste Woche die Delegation aus dem Nachbarland kommt?“ Man glaubt nicht, wie schnell aus einem heiteren unbeschwerten Volk so ein Haufen Miesepeter wurde! Der Spiegel freute sich. „Nun sehen sie den Tatsachen ins Auge!“ Es war, als wäre eine böse Krankheit über das Land gekommen, die sie alle lähmte und unglücklich machte. Nur die Händler in den Nachbarländern rieben sich die Hände, denn nun konnten sie ihre Vitaminpillen, Schönheitswässerchen, Schlankheitskuren, Antifaltencremes und Celluliteroller verkaufen. „Endlich werden sie vernünftig!“ meinten sie. Der König regierte sein Land so gut es ging. Doch er war ratlos und sehnte sich nach den vergangenen Zeiten zurück. „Wer gegen diese Krankheit ein Rezept hat, dem gebe ich die Hand meiner Tochter“, ließ er verkünden. „Ach Vater, wer will schon eine Frau mit so großen Füßen haben“, sagte die Prinzessin traurig. „Von einer zu großen Nase will ich gar nicht erst reden!“ „Richtig“, sagte der König, „große Füße hast du, die hast du doch schon immer gehabt.“ „Siehst du“, seufzte die Prinzessin und ging langsam auf ihr Zimmer, um sich wieder einzuschließen. Ein paar Königssöhne versuchten, das Rätsel dieser unbekannten Krankheit zu lösen. Die meisten hatten schnell wieder aufgegeben, der Spiegel kriegte auch die härtesten klein. Eines Tages, die Sonne schien warm und die Lerchen sangen ihr Sommerlied hoch oben unter dem blauen Himmel, beschloss die Prinzessin auszureiten. Sie ritt im Galopp über die Heide. Da sprang ein junger Hase aus seiner Deckung hoch. Erschreckt bäumte sich das Pferd auf, und die Prinzessin flog in hohem Bogen durch die Luft. Sie landete jedoch weich. „Aua!“ sagte der Prinz, der bis dahin im Gras gelegen und der einzigen weißen Wolke zugesehen hatte. „Was will mich denn hier erschlagen?“ Er richtete sich auf. „Ach, ein junges Mädchen ist vom Himmel gefallen – und direkt in meine Arme!“ Er sah nach oben. „Danke! Dann brauche ich gar nicht mehr zum Schloss zu reiten. Denn jetzt habe ich alles was ich mir wünsche!“ Dann wurde er ernst: „Hast du dir wehgetan? Oder bist du verletzt?“ Er legte die Prinzessin behutsam ins Gras, sie seufzte und öffnete die Augen. „Augen, so blau wie der Himmel!“ sagte der Prinz und wollte gar nicht mehr weggucken. „Lass sehen, ob irgendetwas gebrochen ist.“ Er befühlte ganz vorsichtig ihre Hände, bewegte die Finger, tastete die Arme ab und drückte ihre Hände an seine Lippen. „Spürst du etwas?“ Die Prinzessin lächelte. „Dann scheint das in Ordnung zu sein. Nun die Beine.“ Er fasste nach ihrem Fuß. Die Prinzessin zuckte zusammen. „Was fehlt dir?“ „Zu groß“, sagte die Prinzessin, „nicht kaputt.“ Ganz vorsichtig zog der Prinz der Prinzessin die Schuhe und Strümpfe aus, um zu sehen, ob nicht doch ein Kratzer an ihren Füßen wäre. „So etwas Schönes kann gar nicht groß genug sein!“ Er zupfte an ihren Zehen. „Ich werde jeden einzelnen küssen“, sagte er und beugte sich hinüber. „Das wirst du nicht!“ lachte die Prinzessin und sprang schnell auf. „Meine Füße sind schrecklich kitzelig.“ Und sie rannte wie der Wind davon. Bald war sie aber eingeholt und vorne auf sein Pferd gesetzt. Sie redeten und lachten, und die Prinzessin erzählte von ihrem Kummer und dieser lähmenden Traurigkeit. Früher hast du nicht an deine Füße gedacht?“ „Ich habe sie nicht beachtet!“ sagte die Prinzessin. Sie merkte, warum das so gewesen war. Als sie am Schloss ankamen, trug der Prinz die Prinzessin auf seinen Armen ins Schloss, denn sie war ja noch immer barfuß. Sie sahen einander nur an und nicht in den Spiegel. „Ich glaube, du bist geheilt“, wunderte sich der König. „Nun musst du diesen Burschen heiraten, denn das habe ich versprochen.“ „Das will ich gerne“, sagte die Prinzessin und sah dabei glücklich aus. Der Spiegel ärgerte sich und zersprang in tausend Stücke. Er wurde nicht mehr ersetzt. Denn wer braucht schon einen Spiegel, wenn der Liebste einem jeden Tag liebevoll ansieht und sagt, wie schön und besonders man für ihn ist.